Montag, 5. Februar 2007

Die Norddeutschen verstehen lernen (Teil 1) "Von Kohlfahrten und Bosseln"

Heute möchte ich von einem winterlichen Brauch einiger Regionen Niedersachsens, Bremens und Schleswig-Holsteins berichten, der den Bewohnern südlich gelegenen Bundesländer eventuell etwas merkwürdig vorkommen mag. Es handelt sich um die Kohlfahrt und das damit verbundene Bosseln (nicht busseln!)

Eine Kohlfahrt hat mehrere Ziele. Diese sind geografischer, kulinarischer, konstituierender, wettkämpferischer und barrierebrechender Art.

Geografisches Ziel einer "Kohlfahrt" ist ein Dorfgasthof, der heute traditionell zu Fuß aufgesucht wird. Dort wird den weit gereisten Teilnehmern Grünkohl mit Kartoffeln und Kasseler, Bregen- oder Pinkelwurst serviert. Ursprünglich fuhren die wohlhabenden Geschäftsleute des Oldenburger und Bremer Raums mit Pferdegespannen in die Landgasthäuser. Aus dem Pferdegespann ist aber im Laufe der Jahre ein Bollerwagen geworden. Die Hauptzeit der Kohlzeiten ist von Januar bis Ende Februar.

Das konstituierende Ziel ist der Höhepunkt einer Kohlfahrt und wird mit der Ausrufung des Kohlkönigs oder des Kohlkönigspaars erreicht. Für die Vergabe der Königswürde gibt es keine allgemein gültige Regel. Wir befinden uns hier streng genommen also noch nicht in einer Demokratie. Die häufigste Methode ist die Wiegemethode: Die Kohlfahrer werden vor Beginn und nach Ende des Essens gewogen. Wer den größten Gewichtszuwachs zu verzeichnen hat, wird König oder Königin. Manchmal geht auch das Ergebnis der auf dem Weg gespielten Spiele in die Wertung ein.

Der Handwagen, den zu ziehen übrigens eine besondere Ehre ist, enthält allerlei alkoholische Getränke und einige seltsame Kugeln (dazu später mehr). Die hochprozentigen Getränke werden zur Erreichung des barrierebrechenden Ziels ausgeschenkt, das dann errecht ist, wenn - nun ja…

Das wettkämpferische Ziel der Kohlfahrt versuchen die Teilnehmer, im so genannten Bosseln mit einer 800 Gramm schweren, im Durchmesser etwa 11-12cm große Holz-, Gummi oder Kunststoffkugel (Kloot) zu erreichen. Das vor Spielbeginn festgelegte Ziel muss mit möglichst wenigen Würfen erreicht werden. Es handelt sich also um eine Art Langstrecken-Boccia. Sieger ist die Mannschaft, die das Ziel zuerst erreicht hat. Der Grund warum Bosseln im Winter gespielt wird könnte sein, dass die Gräben, die sich in Norddeutschland beiderseits der Bosselstrecke befinden, dann meist zugefroren sind und das Bergen der Kugel somit relativ leicht ist.

Die Kohlfahrten kamen Anfang des 19. Jahrhunderts richtig in Mode, als der Gründungsboom der Arbeitervereine, die die Fahrten organisierten, seinen Höhepunkt hatte. Damals fanden die Fahrten allerdings noch ohne Frauen statt. Diese drangen erst in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts in die Männerdomäne ein.

Wer bis hierher lesend durchgehalten hat und diese merkwürdige Sitte verstehen will, muss wohl unweigerlich mal an einer solchen Kohlfahrt teilnehmen. Es wird ihm gehen, wie den meisten Menschen mit Karneval: man liebt es oder man hasst es.

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